Über die Gesellschaft für Geschichtsinterventionen


Die Gesellschaft für Geschichtsinterventionen wurde 1998 als Reaktion auf die fortschreitende digitale Revolution und die damit einhergehenden Manipulationsmöglichkeiten von digitalen Schrift-, Foto- oder Audiodateien. Die Gesellschaft GFG  forscht in der bestehenden und fortschreitenden Geschichtsschreibung nach ambivalenten Personen und Ereignissen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung keine Entsprechung gefunden haben. Diese Blindflecke der Geschichtsschreibung (Hoofstraat) sollen in das kollektive Geschichtsbewußtsein integriert werden. Neben dieser Aufgabe werden Fragestellungen nach dem Wahrheitsanspruch und der Manipulationsanfälligkeit von Geschichtsschreibung unter dem Aspekt der temporären Wahrheit (Hoofstraat) erarbeitet.
Seit 2015 wird die Gesellschaft von D. D. Hennig geleitet.




"Wenn ich den Begriff der Geschichtsgläubigkeit verwende, dann benenne ich den Wahrnehmungprozeß des Anteils von Wahrheit in dem was geschichtlich vermittelt wird - also der Wahrheitsanspruch der der Etablierung von historischen Begebenheiten immanent ist. Dem aktuellen historischen Konsens. Die Aufnahme von ereignissen in diesen Kanon der Wahrheiten ist untrennbar von dem was ich als Geschichtsgläubigkeit bezeichnen möchte. Diese aktuelle Geschichtsschreibung beinhaltet den Status Quo der Forschung. Man könnte also auch von temporären Wahrheit sprechen, die bis zu jenem Zeitpunkt, wo neue Forschungs-ergebnisse oder Methoden und den jeweils daraus gewonnenen Erkenntnissen und Bewertungen, ein neuer Status Quo eintritt. Durch den historisch relevanten Fund tritt also die Situation ein, das ein dadurch bestimmtes Kapitel des Geschichtskonsens, der sich auf den Fund und damit verbundene Personen, Städte, Länder oder vieleicht sogar Völkern, umgeschrieben werden müsste. Der Staus Quo der Geschichtsschreibung definiert also a priori den Blickwinkel und somit die Bedeutung eines geschichtlich relevanten Fundes, basierend auf dem status quo der Forschung. Diese Glaubwürdigkeit von Geschichtsschreibung in Frage zu stellen, mit historischen Realitäten oder geschichtlichen Fiktionen zu hantieren, die Geschichtsschreibung zu ergänzen, neue Sachverhalte in bestehende oder konstruierte Konstellationen zu integrieren, um sie dadurch für eine neue Bewertung und einer neuen Betrachtungsweise in Frage zu stellen, also die letzte Bastion der Wahrheit, das Museum als Institution der Geschichts-vermittlung in Frage zu stellen, ist letztlich das Wesen der Geschichtsintervention. Die Geschichtsintervention hinterfragt die Charakteristika der Geschichtsschreibung, und stellt ihre Autorität in Frage. Die Funktion des Museums als Sammler und Bewahrer von Kulturgütern, als Institution der Geschichtsvermittlung und damit die Funktion der Wahrheitsübermittlung wird in Frage gestellt.
Wissentlich mit einer Geschichtsintervention konfrontiert, muss der Rezipient anhand der Präsentation eine eigene Wahrheit konstruieren. Die Intervention kreiert also im übertragenen Sinne eine eigene Wahrheit - die Möglichkeit der geschichtlich akzeptierten Konstruktion wird als Teil des eigenen Verständnisses der geschichtlichen Wahrnehmung verstanden. Der historische Rahmen der Intervention konfrontiert den Betrachter mit seiner eigenen Geschichtswahrheit, seiner Vorstellung von Geschichts-gläubigkeit. Somit wird der Begriff der musealen Glaubwürdigkeit – also Wahrheit – dekonstruiert, und somit eine Sensibilisierung der Wahrnehmung von Geschichte evoziert. Ein Vorgang der Bewusstwerdung des Status Quo der Geschichtsschreibung und damit auch der temporäreren geschichtlichen Wahrheit, der zu einem differenzierten Umgang mit musealen Präsentationen, also Institutioneller Vermittlungsautorität von Wahrheit im Sinne von Geschichtsschreibung führt."

Dr. Jaap van Hoofstraat, Ausschnitt aus einer Rede,Geschichtsphilosophischen Kongress, Berlin, März 1983


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01. Das Modell der Geschichtsintervention

02. 1964 / Der Anastatische Blick: Das Wesen der Intervention in die Geschichte

03. Rezeptions Idealkonstellation nach Jaap van Hoofstraat

04. Der Begriff der temporären Wahrheit


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01. Das Modell der Geschichtsintervention

1962 definierte Prof. Dr. Jaap van Hoofstraat das Modell der Geschichtsintervention. Die Geschichtsinterventionen beschreibt Eingriffe in die Geschichte durch die Geschichtsschreibung selbst. Anhand des geschichtlichen Zeitstrahls (GZS), der auf bisherige, gesicherte Erkenntnisse beruht, wird ein historischer Zeitrahmen definiert. Parallel zum geschichtlichen Zeitstrahl, verläuft der geschichtliche Interventionszeitstrahl (GIZS). Der geschichtliche Interventionszeitstrahl taucht in den bestehenden Zeitstrahl ein und bildet eine Schnittfläche der Zeitachsen (GSZ) – die Intervention in die Geschichte. Nachdem der geschichtliche Interventionszeitstrahl aus der Schnittfläche der Zeitachsen dem geschichtlichen Zeitstrahl verlässt, bildet der Interventionszeitstrahl einen Parallel- Wahrheitsstrang (PWS) für den weiteren geschicht-lichen Verlauf, unter Einbeziehung der Veränderungen durch die Intervention (GZS +/- GIZS = PWS). Über einen längeren zeitlichen Abstand kann dieser weitere geschichtliche Verlauf zu einer Verschmelzung des Parallel- Wahrheitsstrang mit dem geschichtlichen Zeitstrahl führen und so die Integration der Intervention (I) in den geschichtlichen Zeitstrahl unkenntlich machen (GZS +/- GIZS = PWS + I = GZS).

Quelle: Jaap van Hoofstraat, Das Modell der Geschichtsintervention, 1962






02. 1964 / Der Anastatische Blick: Das Wesen der Intervention


Intervention ist eine steuernde Maßnahme von Seite der Lehrenden oder Lernenden, die jene bewusst setzen, um das Geschehen im Interesse der festgelegten Ziele zu organisieren. Demzufolge ist jeder Satz, jede Anweisung eine Intervention im Lernsystem. Intervention in diesem Sinne ist eine normale, ja notwendigen Maßnahme. Auf der anderen Seite soll die Normalität der Intervention nicht dahingehend missverstanden werden, dass ein mehr an Intervention auch ein besser bedeutet. Gerade das Verhältnis zwischen Intervention und Nicht-Intervention ist für den Erfolg von Ausschlag. Dieses zu erkennen und umzusetzen macht die Professionalität der Lehrenden aus. 1994 definierte van Hoofstraat das Wesen der Interventionen in der Geschichte als ist ihre vom Betrachter konstruierte Glaubwürdigkeit. Das unglaubwürdige wird zugunsten einer plausiblen Möglichkeit neu definiert und so im Kontext legitimiert. Das Wesen der Geschichte ist temporär, alle Erkenntnisse behalten ihre Gültigkeit nur so lange, bis neue Erkenntnisse den Sachverhalt neu definieren. In diesem Zusammenhang spricht van Hoofstraat von der geschichtlich temporären Wahrheit. Ein Wahrheitsbegriff der keine entgültige Wahrheit zulässt. Das Wissen über unsere Unzulänglichkeit im Umgang mit geschichtlichen Fakten, führte in der Geschichtsbewertung zu manch kurioser Folgeleistung und Manipulation.

Quelle: Jaap van Hoofstraat, Der Anastatische Blick, 1964







03. Rezeptions-Idealkonstellation nach Jaap van Hoofstraat

Die Rezeptionstheorie ist ein Modell der Textanalyse, wie es u.a. von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser entwickelt wurde, das Texte von ihrer Rezeptionsgeschichte her versteht. Ausgangspunkt ist die Annahme, daß die Bedeutung eines Textes nicht fest ist oder mit der Autorintention zu identifizieren sei, sondern erst im Vorgang der Rezeption zustande kommt und daher sozial und historisch variabel ist. Hans Georg Gadamer schrieb dazu: Zur möglichst authentischen Wirkungsgeschichte gehört das Wissen um den betreffenden geschichtlichen Abschnitt. Nur so ist es möglich, Werke und deren Wirkung der damaligen und somit gerechtfertigten Bedeutsamkeit zuzuordnen. 1958 übertrug van Hoofstraat Teile der Rezeptionstheorie auf die bildenden Künste und definiert die Rezeptions-Idealkonstellation. Im Gegensatz zur Text-analyse bei Jauß und Iser verbindet van Hoofstraat jedoch das Kunstwerk mit der Autorenintention.

Der Künstler entwickelt das Kunstwerk aufgrund seiner existenziellen Situation, also aus Erfahrung, Geschmack, Neigung, Bildung und Sensibilität. Dabei ist die Kategorie der Kunstsparte sekundär, das Modell also übertragbar. Aufgrund von Motivation, Idee und Eingebung entwickelt der Künstler die Intention des Werkes, die dem Werk dann immanent ist und damit auch das Wissen um den geschichtlichen Abschnitt nach Gadamer definiert.

Die existenzielle Situation des Rezipienten entspricht in der Rezeptions-Idealkonstellation der des Künstlers. Basierend auf seiner Erfahrung, Geschmack, Neigung, Bildung und Sensibilität rezipiert er das Werk des Künstlers. Die Rezeption, und damit die Interaktion des Rezipienten mit dem Kunstwerk, führt zu einer bewußten oder unbewußten Bewertung, wobei diese Bewertung durch Desinte-resse, Ablehnung oder Zustimmung geprägt wird. In der Rezeptions-Idealkonstellation wird dem Rezipienten der Zugang zur Intention des Künstlers, als Teil des Betrachtungsspektrums, bewusst. Hierbei gibt es verschiedene Varianten des Zuganges, die von der größe des geschaffenen Zuganges abhängig sind, und den Anreiz darstellen. Im Idealfall ist der Anreiz des Kunstwerkes gerade so groß, das ein weiteres Auseinandersetzen des Rezipienten mit dem Werk gewährleistet ist. Ist der Zugang zu groß, dann erlischt das Interesse - das Kunsterk wird als offensichtlich oder platt bewertet. Im Gegensatz dazu steht ein nicht vorhandener Zugang. Die Anforderung an das Werk aus sich selbst heraus erklärend tätig zu sein, wird durch den fehlenden Zugang verhindert, der Rezipient kann weder etwas über die existenzielle Situation des Künstlers, noch über die Intention des Kunstwerkes erkennen. Diese Situation trifft ebenfalls zu, wenn die existenziellen Situationen von Künstler und Rezipient von ungleicher Konstellation sind. Im Regelfall ist die Rezeptions- Idealkonstellation für diese Situation ausreichend und führt zur anschließenden gefühlten Bewertung. Ist ein Zugang also in ausreichender Form gegeben und damit ein Anreiz gewährleistet, der zur Interaktion des Rezipienten und des Kunstwerkes, und damit zu einer Bewertung führt, wird das Gefühlsspektrum des Rezipienten, in Form von Genuss oder Missfallen, Unwohlsein oder Euphorie, angeregt. Diese Wahrnehmung wird forthin das Bewertungsspektrum des Rezipienten ergänzen und bei späteren Interaktionen sowohl das Verständnis und die Interaktion mit bestimmen.

Quelle: Jaap van Hoofstraat, Rezeption und Konstellation, 1958






04. Der Begriff der temporären Wahrheit

1959 prägte Dr. Jaap van Hoofstraat den Begriff der temporären geschichtlichen Wahrheit. Am Beispiel eines geschichtlich relevanten Fundes lässt sich der Begriff am anschaulichsten erläutern. Ein solch relevanter Fund wird geschichtlich zugeordnet und die historische Bedeutung, nach Möglichkeit, kategorisiert und zeitlich festgelegt. Daraus ergeben sich Erkenntnisse für die weiterführende historische Bedeutung des Fundes. Wenn dieser relevante Fund, in einem zeitlichen Abstand, durch einen weiteren relevanten Fund unterstützt, ergibt sich folgende Situation: eine neue Kategorisierung wird vorgenommen, die bisherige Bewertung, geschichtliche Zuordnung und historische Bedeutung wird neu definiert und hat eventuell eine Korrigierung des geschichtlichen Zeitstrahls, also der Geschichtsschreibung zur Folge. Dieser Status quo wird unweigerlich, aufgrund von neuen und genaueren Forschungsmethoden, in unterschiedlichen Zeitabständen immer wieder auftreten. Den Zeitraum zwischen diesen Ereignissen, definiert van Hoofstraat als temporäre geschichtliche Wahrheit.

Quelle: J.v Hoofstraat, Geschichte im Fluß, 1959/60