Die Oscar Verleihung im März 2014 gilt als einer der turning points in der Popularitätskurve des Selfie-Sticks. Grund dafür ist ein Live-Selfie der Gastgeberin Ellen DeGeneres während der Oscar-Verleihung mit einem Haufen Stars wie Brad Pitt, Julia Roberts, Meryl Streep und der damals noch populäre Kevin Spacey. Allerdings ist dieses Selfie nicht mit einem Selfie-Stick gemacht worden, sondern wurde ganz unspektakulär von Bradley Cooper mit seinen ausgestreckten Armen aufgenommen. Nicht uninteressant ist es ebenfalls, das Samsung 20 Millionen Dollar als Sponsor in die Oscar-Verleihung investierte und auch Ellen DeGeneres neues Smartphone, das Galaxy-Note ein Geschenk von Samsung zu diesem Anlass gewesen ist und eine von Samsung Marketing-Strategien war um den amerikanischen Markt zu erobern. Doch das kostspielige Sponsoring ging nicht ganz auf: obwohl das Oscar-Foto von Ellen DeGeneres the most famous tweet in the world ist und innerhalb eines Jahres 3.366.101 Retweets bekam, fielen die Verkaufszahlen im letzten Quartal 2014 und Apple und Samsung verkauften zu Weihnachten 2014 nur noch gleich viele Smartphones.


Oscar Verleihung März 2014 - Foto: Ellen DeGeneres@twitter.com


Warum also hatte dieses Foto-Ereignis überhaupt einen Einfluss auf die Popularität einer Erfindung, die in dem Moment des Entstehens des Fotos nicht einmal verwendet wurde? Und dabei war der Selfie-Stick keine neue Erfindung. Die Frage nach dem Urheber jedoch wird im Netz sehr unterschiedlich und größtenteils eher unwissenschaftlich beantwortet. Daher ein kurzer Blick auf zwei Beispiele für das „erste Selfie der Welt“.

Wenn wir die keywords: first selfie in eine Suchmaschine eintippen finden sich sofort schwarz/weiß Fotos die den Anschein erwecken, als würden sie einem Selfie-Stick verwenden und dem flüchtigem Beobachter, oder aber den erregten und erwartungsvollem Sucher können dabei Details entgehen, sodass eher der Wunsch danach das erste Selfie gefunden zu haben, größer sein kann als der genaue Blick. Lassen Sie uns also genau hinsehen. Das innige Pärchen auf dem Foto, das so freundlich in die Kamera blickt, sind Helmer Larrson und seine Frau Naemi aus Wermland in Schweden und das Bild ist auf das Jahr 1934 datiert, was anhand der Kleidung auch zu stimmen scheint. Der krumme Ast, der links im Bild zu sehen ist und aus dem Foto herausragt, ist der Grund dafür, das einige Webseiten der Ansicht sind hier das erste Selfie-Stick Foto entdeckt zu haben. Wahrscheinlicher als ein Selfie-Stick ist jedoch die Vermutung, das Helmer Larrson den Ast benutzt hat um einen, seitlich an der Kamera befindlichen, Auslöser zu betätigen, da sich anscheinend in dem schwedischen Birkenwäldchen niemand finden ließ, der die beiden fotografieren konnte.


Helmer Larrson und seine Frau Naemi aus Wermland in Schweden - Fotograf unbekannt Quelle: imgur.com

 

Das gleiche Phänomen einer solchen Umdeutung findet sich auf dem Foto des Journalisten Alan Cleaver, das seine Großeltern zeigt, wie sie sich 1926 in Rugby, Warwickshire, England fotografierten. Cleaver spielte das Foto 2014 verschiedenen Zeitungen zu, nachdem Ellen DeGeneres Selfie bei der Oscar-Verleihung so populär geworden war. Wieder sehen wir ein Paar, das mit einem Stock bewaffnet auf eine Kamera zielt. Der eher zweifelnde Gesichtsausdruck von Helen Hogg steht im Kontrast zu dem grinsenden, rauchenden Gesicht ihres Mannes Arnold. Helen scheint dem Stock ihres Mannes skeptisch zu folgen und zu befürchten, das er die Kamera beschädigt. Es ist auch hier eher anzunehmen, das Arnold Hogg eine auf dem Stativ befindliche Kamera mit seinem Stock am Auslöser betätigt, als das er gerade den Selfie-Stick erfunden hat, aber nur ein einziges Foto damit machte – wie sein Sohn der Dayli Mail berichtete.


Alan Cleavers Großeltern 1926 in Rugby, Warwickshire, England - Quelle: BBC, Alan Cleaver


Wer also war der Erfinder des Selfie-Sticks wirklich? Lassen Sie uns dazu 120 Jahre in der Geschichtsschreibung zurückgehen, ins Jahr 1898 zu dem menschenscheuen, deutsch-ungarischen Komponisten und Fotografen Gustav Szathmáry. Der Fotograf Szathmáry beschäftigte sich mit dem folgenden Problem: Wie umgehe ich es fotografiert zu werden, obwohl ich mich fotografieren möchte? Eine Fragestellung die aus heutiger Sicht seltsam anmutet und unverständlich erscheinen mag, sind wir doch mit dem Medium Fotografie vollkommen vertraut und die Zahl der Fotos die täglich geschossen werden, war nie so hoch wie in unserer Gegenwart. Das damals jedoch neue Medium der Fotografie das Szathmáry in seiner Wahlheimat Paris an allen Straßenecken begegnete, verabscheute er zutiefst. Das „wilde herum-fotografieren“ in der Öffentlichkeit war ihm eine „Belästigung“. Generell zeigte Szathmáry Interesse an technisch neuen Entwicklungen. Sein Problem galt dem ungewollten Abbild. Von einem Fremden Menschen fotografiert und damit für die Ewigkeit auf einem Glasträger, einer Zinkscheibe konserviert zu werden, aber nicht zu wissen, wo sich dieses Duplikat seiner Selbst befindet und wer es ansieht, erweckte in ihm das reine Grauen. Sein fotografisches Interesse fand im verborgenen statt. 1898, zehn Jahre nachdem George Eastman in den USA die KODAK No.1 entwickelt hatte, entstand in Paris Szathmárys Variante der Rollfilmkamera: die BABÁM No1.


Gustav Szathmáry mit dem Távkioldö und der Kamera Babám No1 - Quelle Dieter Heinisch, Das Leben Gustav Szathmárys, 1967


Ein Kameratyp der mit einem Rollfilm ausgestattet und bis zu 50 Fotos aufnehmen konnte. Eastmans KODAK No.1 nahm sogar 100 Bilder auf, musste danach jedoch zur Filmentnahme und Entwicklung ins KODAK-Werk geschickt werden und kam mit einem neuen Film und den entwickelten Fotos zurück. Während der Entwicklung konnte die Kamera also nicht benutzt werden, oder aber man hatte Luxus von einer zweiten Kamera als Backup. Gustav Szathmárys BABÁM No.1 dagegen verfügte auf der Rückseite der Kamera eine Klappe, wo der Benutzer nach den 50 Aufnahmen den Film selbst austauschen konnte. Die Kamera war der erste Schritt zur fotografischen Selbstbestimmung Szathmárys. Der zweite Teil war der Távkioldö, die „Fernsteuerung“ wie der Stock in der Übersetzung heißt. Auf einen zweiteiligen, gebogenen Ast mit Ledergriff, wurde die BABÁM No1 auf einer Holzplatte mit Lederriemen befestigt und über ein durch Ösen geführtes Seilsystem ausgelöst. Anders als bei heutigen Smartphonekameras die über einen Selbstportraitmodus verfügen, musste der Benutzer der BABÁM No1 ein großes Einschätzungsvermögen über die Position der Kamera und den damit verbundenen Ausschnitt des Bildes haben. Der Távkioldö wurde 1897 von Szathmáry in London zum Patent angemeldet, das 1917, lange nach Szathmárys Tod auslief und nicht erneuert wurde. Wie bei dem heutigen Selfie-Stick läuft auf dem Foto die charakteristische Stange mittig von unten in das Bild. Auf dem abgebildeten Selbstportrait von Gustav Szathmáry sieht man dazu noch den Halteriemen, der um den Hals gelegt wurde um das beachtliche Gewicht des Távkioldö und der Kamera zu stabilisieren. Ein Problem das durch die heutige Verwendung von Aluminium und Kunststoffen im Selfie-Stick nicht mehr notwendig ist.

 

Filmstill aus: „Ich habe Einstein umgebracht“ (Zabil jsem Einsteina, pánové) - Quelle: Ceskoslovenský Státní Film, Filmové studio Barrandov


In den 1960er Jahren treffen wir auf eine filmische Anekdote, die sich auf Youtube großer Beliebtheit erfreut. In den Prager Barrandov-Studios entstand zu der Zeit unter der Regie von Oldrich Lipsky die tschechoslowakische Sci-Fi-Komödie „Ich habe Einstein umgebracht“ (Zabil jsem Einsteina, pánové). Dem eigenartigen Plot des Films zufolge, wachsen den Frauen im Jahr 1999 Bärte! Schuld daran ist die Atomkraft. Das ist jedoch kein Problem, denn man verfügt über die Möglichkeit der Zeitreise. Es wird beschlossen den Verursacher der schädlichen Atomkraft Albert Einstein auszulöschen. Eine Gruppe ritterlicher Agenten wird in das Jahr 1914 nach Prag geschickt um Einstein zu töten. Im ersten Drittel des Films gibt es eine Szene in der eine Frau mit einer Art ausfahrbarer Antenne ein Foto von sich und ihrem Begleiter macht. Die Form und Handhabung erinnert aus heutiger Sicht stark an einen Selfie-Stick, mit integrierter Kamera, samt Blitz und Polaroid-Bildauswurf. Der Film hat es in seiner Zeit leider nicht zu großer Verbreitung im Westen gebracht, was als Grund dafür angesehen werden kann, warum die innovative Darstellung der tschechoslowakischen Requisitenbauer, eines zukunftsweisenden Fotoapparates, ebenfalls nicht weit verbreitete.

Bis in die Anfänge der 1980er Jahre blieb die Entwicklungen eines Selbstfotografierers die Ausnahmeerscheinung eines introvertierten deutsch-ungarn und erfindungsreicher tschechoslowakischer Requisitenbauer. Dann wurde Paris erneut der Schauplatz bei der Entwicklung des Selfie-Sticks, als der japanische Techniker der Firma MINOLTA, Hiroshi Ueda mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, den Louvre besuchte. Als die Familie ein Erinnerungsfoto von sich machen möchte und einen Jungen auf seine Hilfe anspricht, nimmt dieser die hochwertige, teure Kamera und war nicht mehr gesehen. Dieses ausschlaggebend Erlebnis war für Hiroshi Ueda die Motivation um eine Vorrichtung zu entwickeln, die ihm erlaubte, nicht mehr auf die Hilfe anderer beim Erstellen von Erinnerungsfotos angewiesen zu sein. Der Teleskop-Extender-Stick, 1983 in den USA zum Patent angemeldet, kam zur falschen Zeit und war ein finanzieller Flop. Die Teleskopstange mit Griff, Vorrichtung um eine Kamera zu befestigen und vom Griff aus zu steuern, erinnert in fast allen Punkten an den Selfie-Stick von heute. Der Teleskop-Extender-Stick wurde jedoch in seiner Zeit als so unnötig betrachtet, dass er in das Buch der „101 Unnützlichen japanischen Erfindungen“ aufgenommen wurde – zusammen mit Staub-Hausschuhen für Katzen und dem Badehosen-Anzug für Hydrophobe (um ein Bad zu nehmen, ohne nass zu werden). Das Patent für den Teleskop-Extender-Stick lief 2003 aus.


Hiroshi Ueda mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, fotografiert mit dem Teleskop-Extender-Stick - Quelle: daylimail.uk Foto: Hiroshi Ueda

 

2002 machte ein weiterer Erfinder Urlaub mit seiner Frau, diesmal in Florenz. Als der Kanadier Wayne Fromm auf dem Ponte Vecchio ein Erinnerungsfoto von sich und seiner Frau machen will, erleben sie was jeder schon erlebt hat, zu viele Menschen, so das es keinen Platz gab um die Kamera aufstellen zu können, außerdem fühlten sie sich unbehaglich jemanden darum zu bitten ein Foto von ihnen zu machen. Also fotografierten sie sich abwechselnd und gingen frustriert ins Hotel. Zurück in Toronto nagte dieses Erlebnis ein paar Jahre an seinem Erfindergeist und 2005 schließlich meldete er den QUICK POD zum Patent an. Fromm versucht weltweit Interessenten für sein Produkt zu finden und bekommt auch eine Menge Aufmerksamkeit, doch die Zeit ist immer noch nicht reif für den Selfie-Stick.


Wayne Fromm mit dem QUICK POD - Quelle:  Financial Post Foto: P.J.Thompson/National Post

 

Was war also nach der Oscar-Verleihung 2014 und dem Foto-Tweet von Ellen DeGeneres passiert, das der Selfie-Stick plötzlich in der Popularität so sehr anstieg, das er heute nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist, besonders natürlich in Verbindung mit dem Massentourismus. Die Antwort darauf besteht aus mehreren Faktoren, die zusammen ein verändertes Gesellschaftsverhalten ermög-lichten. Der erste Faktor, der Hiroshi Ueda 1985 und Wayne Fromm 2005 zum wirtschaftlichem Erfolg fehlte, war die Entwicklung des Smartphones und der damit verbundene mobile Zugang zum Internet. Die ersten Smartphones gab es bereits in den späten 1990er Jahren, aber erst mit der Einführung des iPhones im Jahr 2007 gewannen sie nennenswerte Marktanteile. Durch den permanent mitgeführten Internetzugang löste dies einen Wandel im Internet-Nutzungsverhalten aus. Doch erst mit der Etablierung der sozialen Netzwerke Facebook 2004, Twitter 2006 und Instagramm 2010 wurde der entscheidende Faktor zur Massenhaften Verbreitung des Selfie-Fiebers, und damit des Selfie-Sticks gelegt. Dieses Selfie-Fieber wurde in der Oscar-Nacht 2014 entfacht und brennt bis heute. So verwundert es auch nicht, das der größte Verkaufsschlager Weihnachten 2014 der Selfie-Stick gewesen ist. Was Ellen DeGeneres in der Oscar-Nacht den Menschen Weltweit verkaufte, war das Lebensgefühl, Teil einer weltweiten Community zu sein that keeps you ‘in the know’. Ein Star verkaufte mit Stars zusammen das Gefühl ein Star zu sein und damit die Verheißung das jeder ein Star sein kann, der ebenfalls ein Selfie von sich macht und es online stellt. Und da ging es sogar noch ohne Selfie-Stick.


Die Zukunft des Selfie-Stick - Quelle: Privat